Leseprobe Siebzehn und später - Seelenfutter-Buchprojekte

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SIEBZEHN UND SPÄTER von Alex Kilian

Kapitel 6 - Seite 67
... Er war so nervös, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Sonst konnte ihn eigentlich nichts erschüttern. Ich hätte mir an seiner Stelle in die Hose gemacht. Vielleicht erschien mir Sex auch nur viel zu kompliziert. Vielleicht war das ja ’ne ganz simple Sache. Alles, was ich mir darüber zusammenreimte, ging aber in eine ganz andere Richtung. Dort war es superkompliziert und konnte nur von Eingeweihten, die alle möglichen Codes kannten und über spezielles Geheimwissen verfügten, gemacht werden. Also nicht von mir.
  Schnell erreichten wir das Haus und rumpelten über die Steinschwelle in die Hofeinfahrt. Der Wagen nickte dabei, als wollte er jemanden grüßen. Ich wäre gern noch ein Weilchen weitergefahren. So hätte ich meinen Gedanken noch ein wenig nachhängen können.
  Paul stand in der Tür und hielt eine Dose Bier in der Hand.
  „Mann, ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr“, maulte er, als wir ausstiegen. Zu einer abgeschnittenen Jeans trug er ein hellgelbes Frotteeshirt. Er sah aus wie ein Prolet.
  „Wir mussten alles einladen“, sagte Kralle, „und Kuchen gab’s auch noch.“
  Paul rülpste. „Kuchen“, brummte er, „ist ja toll.“
  Wir schleppten meine ganze Ausrüstung rein.
  „Ist das alles?“, fragte Paul.
  „Was willst du?“, lachte Kralle. „Einen Kran?“
  „Einen Dolly?“, ergänzte ich.
  „Is’ ja doll“, sagte Paul. Ich wusste, dass er die Wagen nicht kannte, auf denen sie die Kameras über das Set schoben.
  „Wo ist Sanne?“, fragte Kralle.
  „Liegt in der Sonne.“
  „Im Garten?“
  „Wo sonst? In der Küche?“ Paul grinste und fand sich witzig.
  „Wir haben eine Sonnenliege am Pool“, meinte Kralle kühl.
  „Ne, sie ist im Garten.“
  „Ich geh mal zu ihr.“
  Kralle verschwand durchs Wohnzimmer.
  „Hör zu, Kleiner“, sagte Paul. „Vermassle das jetzt nicht, ist wichtig.“
  „Für wen? Für dich?“ Ich fühlte mich stark, weil sie mich jetzt brauchten. Ohne meine Kamera waren sie aufgeschmissen.
  „Für uns alle. Denk an die Kohle.“
  „Mach ich. Was ist mit Vorschuss?“
  „Du hast sie wohl nicht alle ...“
  „Und die Kassetten? Meinst du, die gibt es umsonst?“
  „Wir haben alle Kosten.“
  „Was für Kosten hast du denn?“ Das Adrenalin in meinem Blut machte mich stark.
  „Schon mal was von Marketing gehört? Ich hab ’ne Menge angeleiert.“
  „Was hat das mit mir zu tun?“
  Ich nahm eigentlich an, dass er mir gleich Prügel androhen würde, doch dann fasste er glatt in die Tasche und nestelte einen klein zusammengefalteten 50-Mark-Schein heraus.
  „Kannst du mir zwanzig rausgeben?“, fragte er.
  „Nö.“
  „Scheiße. – Wirklich nicht?“
  „Nö.“
  „Jetzt sieh halt mal nach.“
  „Brauch ich nicht nachzusehen.“
  „Fuck!“
  Er drückte mir den Schein in die Hand.
  „Dafür will ich jetzt aber auch was sehen von dir.“
  Das Blut schoss mir in den Kopf. „Was willst du sehen?“
  „Astreine Arbeit, Kleiner.“
  „Ach so.“ Im Halbdunkel des Flurs war meine rote Birne hoffentlich nicht zu erkennen.
  Wir ließen uns im Wohnzimmer in die Polster fallen. Sanne lag mitten auf dem Rasen auf einem Handtuch und trug einen schreiend gelben Bikini. Kralle hockte neben ihr. Sie quatschten, und ich hätte gerne gelauscht. Paul hatte plötzlich einen rosafarbenen, quadratischen Zettel in der Hand, wie man sie gewöhnlich in Quaderform gebündelt neben dem Telefon findet.
  „Wir müssen noch über die Story sprechen“, sagte er.
  „Was ist das? Dein Drehbuch?“
  „Wofür hältst du es denn? Für einen Einkaufszettel?“
  Es war das Drehbuch. Der Zettel war auf beiden Seiten vollgeschrieben, und Paul drehte ihn abwechselnd hin und her.
  „Also, wir machen es so“, sagte er, „die Frau ist alleine hier und putzt die Wohnung ...“
  „Sie putzt?“
  „Was auch immer ...“
  „Sie putzt also ... und wie putzt sie?“
  „Bloß so ... irgendwie ...“
  „Natürlich bloß so ...“
  Er hob die Hand und hielt sie mir vors Gesicht. „Jetzt wart ab, verdammt! Sei einfach mal still! Immer musst du quatschen ...“
  „Schon gut.“
  „Sie putzt ... oder macht sonst einen Scheiß, ist ja egal, das findet sich. Es läutet an der Tür, sie macht auf, ein Handwerker steht draußen.“
  So was Ähnliches hatte ich in der zurückliegenden Nacht schon einmal auf Video gesehen.
  „Also“, redete er weiter. „Sie lässt ihn rein und findet ihn gleich unheimlich sexy. Sie gehen hinüber ...“ Er deutete zum Pool. „ ...und da passiert’s dann, verstehst du? Ganz simpel.“
  Mich hätte interessiert, wie er das, was da passieren sollte, auf seinem Zettelchen vermerkt hatte.
  „Aha.“ Ich machte ein gleichgültiges Gesicht.
  Kralle kam rein, grinste uns unsicher an und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank an der Bar.
  „Ich hab ihm die Story erzählt“, sagte Paul. „Er weiß jetzt Bescheid.“
  „Gut.“ Kralle wandte sich an mich. „Was meinst du dazu? Wollen wir den Film so machen oder würdest du die Handlung umstellen?“
  Die Frage verwunderte mich.
  „Viel Handlung ist ja nicht“, sagte ich unsicher.
  „Na, wart nur ab.“ Kralle versuchte zu grinsen.
  „Wir machen es genau so, wie ich gesagt habe“, brummte Paul.
  „Das heißt“, sagte Kralle, „Sanne zuerst, oder?“
  „Putzen.“ Paul wischte mit der Hand in der Luft herum.
  „Ich mach mal die Kamera klar“, verabschiedete ich mich und ging in den Flur. Meine Hände zitterten und ich war ungeschickt, als ich die Hülle aufriss und die Kassette einlegte. Für einen Moment war mir meine Kamera völlig fremd und ich hatte keine Ahnung, wie ich das Ding bedienen musste. Das wird was, dachte ich, Mensch, Mensch, Mensch. Es war verdammt aufregend.
  Sanne kam ins Wohnzimmer und umarmte Kralle.
  „Muss ich jetzt?“ Ihre Stimme klang leiernd. Ich hatte sofort das Gefühl, dass sie was eingeworfen hatte und zugedröhnt war.
  „Bobo, was soll sie machen?“, fragte mich Kralle.
  „Ich dachte, sie soll putzen.“
  „Ist doch egal, was sie macht“, ätzte Paul, „nur lasst uns endlich anfangen. Wann kommen deine Alten wieder?“
  „Nicht vor morgen Abend“, sagte Kralle.
  „Was soll ich denn putzen?“, kicherte Sanne.
  „Frag ihn.“ Paul deutete auf mich.
  „Ich hol Lampen“, sagte ich und war froh, dass ich mich mit etwas Handfestem beschäftigen konnte. Meine Videoleuchten steckte ich auf alte, auf Flohmärkten billig erworbene Stative. Es sah aus wie Schrott, es war Schrott, aber es funktionierte ganz gut.
  „Was soll ich anziehen?“, fragte Sanne.
  „Behalt den Bikini an“, meinte Kralle.
  „Putzen im Bikini?“
  „Klar, warum nicht?“
  „Hast du keinen Tanga?“, nölte Paul. „Was Knapperes?“
  „Zu Hause“, sagte Sanne. „Ein winziges Ding, ziemlich ordinär.“
  „Zu Hause liegt er gut.“ Paul winkte ab.
  „Von mir aus kann es losgehen“, sagte ich. „Die Lampen stell ich nach Bedarf auf.“
  „Die Perücke!“, rief Sanne und fuhr sich dabei mit den Fingern durch den wirren Lockenkopf. „Die Perücke! Scheiße, die darf ich nicht vergessen.“
  Barfuß huschte sie an mir vorbei den Flur runter in Kralles Zimmer.
  „Was für ’ne Perücke?“, fragte ich.
  „Wir haben uns Perücken organisiert“, erklärte mir Kralle, „damit wir nicht zu erkennen sind.“
  „Du auch?“ Ich musste lachen, obwohl ich seine nie gesehen hatte.
  „Ich auch, klar.“
  „Bei so ’nem Film sieht man die Leute eh nie richtig“, sagte Paul. Ich wusste nicht, ob er Kralle damit nur beruhigen wollte. Die Gruppe, die ich heute Nacht auf Video gesehen hatte, würde ich auch im Dunkeln wiedererkennen. Diese me
rkwürdigen Gesichter, wenn es ihnen kam. Als ob man ihnen einen Nagel durch den Fuß trieb.
  Wir rauchten, während wir auf Sanne warteten. Kralle war extrem unsicher und seine fortwährende grinsende Zunickerei ging mir auf die Nerven. Wenn es jetzt gleich losging, würde ich mich wenigstens hinter meinem Sucher verstecken können.
  Sanne kam, und keiner sagte ein Wort. Ihre blonde, glatthaarige Perücke wirkte so unecht wie ein Van-Gogh-Poster im Partykeller. Aber sie sah nicht schlecht damit aus. Ziemlich billig, aber nicht schlecht. ’Ne Schlampe halt, jedenfalls für mich, der diese Bezeichnung noch nicht lange draufhatte. Sie nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und rauchte nervös.
  „Was soll ich tun?“, wollte sie wissen.
  Ich fragte mich, was sie ihr wohl versprochen hatten, damit sie mitmachte? Geld? Machte sie es, weil sie die Kohle brauchte? Oder tat sie es aus Liebe zum verrückten Kralle? Oder wusste Paul was von ihr, und ihr blieb keine Wahl?
  „Soll er entscheiden.“ Paul deutete auf mich. „Kleiner, jetzt leg los.“
  Kralle nickte wieder. Der Idiot hatte Bammel, ich sah es ihm an.
  „Mastershot“, sagte ich, „die Totale am Anfang.“
  Ich hatte ein paar Bücher über Hollywood gelesen und auch einige Fachausdrücke drauf. Es war das erste Mal, dass ich sie verwenden konnte. Ich stellte mich mit der Kamera auf dem Stativ an die Terrassentür und versuchte, einen möglichst weiten Ausschnitt aufs Bild zu kriegen.
  „Sanne kommt rein, geht dort rüber und macht halt so rum“, sagte ich.
  „Was soll ich rummachen?“, fragte sie.
  Ich sah Paul an. Aber der hatte wohl beschlossen, mir die Detailarbeit zu überlassen. Er stand auf der Terrasse und trank sein Bier, als würde ihn das alles nicht mehr interessieren. Also ging ich zur Tür und zeigte Sanne, wie sie hereinkommen sollte.
  „Habt ihr einen Staubwedel?“, fragte ich.
  Kralle holte mir ein bescheuertes Staubtuch aus der Küche. Ich zeigte Sanne, wie sie damit hereinkommen und über die Möbel wischen sollte, eilte zurück an meine Kamera, überprüfte Blende und Schärfe und rief: „Jetzt!“
  Sanne kam herein, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt und wischte mit dem Tuch herum. Mehrmals sah sie dabei zu mir und in die Kamera. Sie summte ein Lied und murmelte irgendwelche Selbstgespräche. Mittendrin hörte sie auf und fragte: „Gut so?“
  „Na ja“, stöhnte Kralle.

  „Einfach noch einmal“, sagte ich.
  „Aber wie war es denn?“
  „Du musst vielleicht noch ein wenig lockerer werden“, sagte Kralle.
  „Wie lockerer?“
  „Na, eben lockerer, du weißt schon.“
  „Mach einfach noch mal“, rief ich ihr zu.
  Ihre Augenlider hingen auf Halbmast und ich dachte: Oje.
  Sie stapfte hinaus, kehrte um und kam wieder rein.
  „Moment“, rief ich, „muss doch erst einschalten.“
  „Lässt du die Kamera nicht laufen?“, fragte mich Kralle.
  „Natürlich nicht“, sagte ich, „das ist doch keine Überwachungskamera.“
  „Ah?“
  Ich schaltete wieder ein, rief „Jetzt!“ und Sanne trottete herein, wischte lustlos mal hier und mal da, drehte sich abrupt um, sah in die Kamera und sagte: „Scheiße, können wir nicht was anderes machen?“
  „Wie war die? Die war doch gut, oder?“ Kralles Blick flehte mich um Zustimmung an.
  „Besonders war es nicht, sie guckt dauernd in die Kamera“, sagte ich.
  „Sie ist nervös.“
  „Es sieht aber nicht gut aus, wenn sie in die Kamera guckt.“
  „Wenn ich nicht gut aussehe, können wir es ja gleich lassen.“ Sanne warf das Tuch zu Boden und rannte raus.
  „Sanne!“, rief Kralle ihr nach. „Bleib hier, es war gut, wir nehmen es so, es war perfekt.“
  Paul kam rein und fragte mich, was los wäre.
  „Sanne zickt“, sagte ich.
  „Das war klar“, meinte er. „Sonnenklar.“
  „Ist nicht so leicht, wenn man es das erste Mal macht“, sagte ich.
  „Sie macht es nicht das erste Mal, sie nicht.“
  „Gefilmt werden?“
  „Das schon ... Wer redet denn davon?“
  Ich traute mich nicht weiterzufragen. Es kratzte zu sehr am Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte. Kralle kam mit Sanne im Arm zurück.
  „Geht’s wieder?“, fragte Paul.
  „Ja, ja.“

  „Sag ihr, was sie machen soll“, sagte Paul zu mir.
  „Putzen“, antwortete ich.
  „Scheiße!“, rief Sanne.
  Ich nahm die Kamera vom Stativ und versuchte sie zu beruhigen. „Ich geh dir hinterher und filme dich wie einer, der dich beobachtet. Mach einfach und achte nicht weiter auf mich.“
  „Also, wie jetzt?“, fragte sie.
  „Mach einfach“, sagte ich.
  „Mach“, rief Kralle.
  „Wie?“, fragte Sanne. Eigentlich schrie sie uns an.
  Mit der Kamera in der einen und dem Staubtuch in der anderen Hand zeigte ich ihr, wie sie gehen sollte. Ich fand, ich machte meine Sache richtig gut. Sanne war kein bisschen lockerer geworden. Doch jetzt, wo ich näher an ihr dran war und sie so klein und schwarzweiß im Sucher beobachtete, bemerkte ich, wie frustriert sie wirkte. Wie lustlos und genervt. Genau das erforderte ihre Rolle. Also war es gut.
  „Gut so“, sagte ich, der Ton war ja egal, da würde ich später Musik drunterlegen, vielleicht was von Uriah Heep oder so. Von Musikrechten hatte mir zu der Zeit noch keiner was erzählt.
  Ich schwenkte an ihr herum, filmte ihren Busen, ihren Bauch und ihren Hintern. Der Bikini strahlte so hell, dass ich mehrmals die Blende korrigieren musste.
  „Müsste es jetzt nicht endlich mal an der Tür läuten?“, brummte Paul.
  „Wieso? Wer kommt noch?“, fragte Kralle erstaunt.
  „Du.“
  „Ich?“
  „Der Handwerker“, sagte ich.
  „Mann ... klar, Mensch, hatte ich vergessen. Ich zieh mich schnell um.“
  „Ja, mach mal.“
  Sanne ließ sich auf die Couch fallen und seufzte.

 ...

Created by Andreas Kurz
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