KÜSS MICH IN DER WERBEPAUSE von Andreas Kurz
Leseprobe
Auszug aus "Küss mich in der Werbepause" - Story 18
Laura
war anders als die Mädchen, die ich früher gekannt hatte. Laura war
nämlich wunderschön. Auch die anderen sahen nicht schlecht aus, nein,
sie waren durchaus hübsch, süß, nett, das schon, aber Laura war von
jenem Kaliber, das einem Mann wie mir augenblicklich die Fähigkeit
raubt, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Oder den Straßenverkehr zu
beachten. Laura hatte langes schwarzes Haar und einen Körper, von dem
ich mir wünschte, ich dürfte ihn einmal in Ruhe ein ganzes Wochenende
lang anknabbern.
Kennengelernt
hatte ich Laura im Büro. Wir waren ein moderner Laden, Software, da war
Duzen Pflicht. Und locker musstest du sein. Wenn du nicht locker warst,
passtest du nicht ins Team. Also waren alle verdammt locker. Bis Laura
auftauchte und mit ihrem Fahrgestell die Flure brennen ließ. Sie begann
als Marketingassistentin, und ich weiß bis heute nicht, ob sie
irgendetwas konnte. Vielleicht hatte sie ja Talent. Vielleicht machte
sie ihre Sache richtig gut. Ich habe es nie mitbekommen.
Kam
ich ihr näher als fünf Schritte, wurden meine eingeübten Reflexe
gelöscht. Mein Körper erstarrte und mein Sprachzentrum wechselte in ein
Notprogramm, dessen einziger noch verfügbarer Wortlaut aus einem
ausatmend langweiligen „Öh-hm“ bestand. Ich bildete mir ein, allein dazu
geboren worden zu sein, diese Frau anzustarren.
Bei
der Weihnachtsfeier fragte ich Laura, ob sie mal zu mir zum Essen
kommen würde. Zu mir nach Hause. In meine Wohnung. Nur wir zwei. Ich war
also ziemlich betrunken. Eigentlich wollte ich nichts weiter, als mir
endlich meine Abfuhr bei ihr abzuholen und dann das übliche
‹Alles-scheiße-Weihnachten› bei meinen Eltern zu verbringen.
Laura sah mich an, lächelte und sagte: „Ja, gern.“
Ich sagte: „Toll! Wann?“
Sie sagte: „Morgen?“
Ich sagte: „Um sieben?“
Sie sagte: „Schön, ich freue mich.“
Ich sagte: „Öh-hm ...“
Als
am nächsten Abend die Türklingel ging, waren rund tausend lange Stunden
durchs Land gekrochen. Stunden, in denen ich Zeit hatte, mich um ein
Abendessen zu kümmern, das in krassem Gegensatz zu meinen rudimentären
Kochkenntnissen stehen sollte. Meine mütterliche Nachbarin Frau Schultze
half mir. Sie kochte gerne und gut, und ich bezahlte sie fürstlich
dafür. Sie hängte sich rein und erklärte mir, wann ich welchen Topf auf
welcher Platte mit welcher Gradzahl warm zu halten hätte. Ich schrieb es
mir auf; nicht einmal das hätte ich mir merken können.
Ich
stellte die Kerzen auf den Tisch, die ich zu meinem siebzehnten
Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und der lag nun schon ein paar
Jahre zurück. Die Farben waren schon wieder modern. Natürlich gab es
Champagner. Ich hatte geduscht, war neu eingekleidet, ich hatte getan,
was alle Männer in meiner Situation tun würden. Doch ich war zutiefst
davon überzeugt, dass mir Laura nicht zustand, dass das Schicksal diesen
Irrtum bald bemerken und korrigieren würde. Ich öffnete die Tür und
wäre nicht überrascht gewesen, wenn mir ein Taxifahrer mit einer Kippe
im Maul wortlos einen Zettel in die Hand gedrückt hätte, auf dem mit
Lippenstift geschrieben stand: „Sorry, L.“. Auch über einen
breitschultrigen Schläger wäre ich nicht erstaunt gewesen, der mich erst
nach hinten gegen die Wand geschubst und mir dann mit leisem Bariton
aus einem Zentimeter Entfernung ins Gesicht gemurmelt hätte: „Du lässt
deine scheiß Wurstfinger von diesem klasse Mädchen, kapiert?“
Was
mich vollends aus dem Konzept brachte, war ihre tatsächliche
Leibhaftigkeit. Sie stand vor mir. Pünktlich und in allen drei
Dimensionen.
„Hi“, sagte sie und gab
mir einen Kuss auf die Wange. Ich roch ihr Parfüm und die Seife, auch
sie musste erst vor kurzem geduscht haben. Sie trug ein dunkles, eng
anliegendes Kleid, und ich sah im Moment des Kusses in ihrem Dekolleté
ein wenig von der Spitzenverzierung ihrer Unterwäsche, edle Dessous in
der Art, wie sie die Mädchen auf den Plakaten an den Bushaltestellen
tragen.Wie der Glöckner von Notre Dame schlurfte ich ihr ins Wohnzimmer hinterher.
„Nett hast du es hier“, sagte sie.
Ich
grunzte eine Antwort und zog den Champagner aus dem Eisfach. Okay,
Schicksal, dachte ich, du spielst also mit mir. Ich schenkte die Gläser
voll, servierte das Essen, parlierte in netter Form über Musik und
Literatur und drängte artig die Bilder in meinem Inneren zurück, die
ausschließlich unser beider nackte, schwitzende Leiber zeigten, wie sie
kurz vor einem endgültigen, alles Leben löschenden Orgasmus zuckten.
Da
nahmen die Dinge eine unerwartete Wendung. Denn sie sah mich plötzlich
mit weit aufgerissenen Augen an und sagte: „Oh mein Gott, welcher Tag
ist heute? Samstag? Ist heute wirklich Samstag?“
Ich nickte.
„Weißt
du, das ist mir schrecklich peinlich, aber heute zeigen sie ‹Außer
Atem› von Jean-Luc Godard mit Belmondo und Seberg in den Hauptrollen.“
Ich
glotzte sie an wie ein Mann, der gerade seine Hose über einen Stuhl
gefaltet hat und nun sieht, wie sich der Vorhang öffnet und er auf einer
großen Bühne steht.
„Du willst fernsehen?“, fragte ich.
„Na
ja, natürlich nicht, ich bin ja jetzt hier bei dir, und du hast dir
schrecklich viel Mühe gegeben, mit dem Essen und allem, aber du ahnst
sicher nicht, was Godard für mich bedeutet. Ich halte ihn für einen Gott
und ich liebe seine Filme, verstehst du? Ich kenne jedes Wort, jede
Szene, und ‹Außer Atem› ... Kennst du ‹Außer Atem›?“
„Weiß nicht. Ist er schwarz-weiß?“
„Oh
ja. Ich wünschte mir, ich würde ihn noch nicht kennen. Ich beneide dich
darum, dass du ‹Außer Atem› noch nicht gesehen hast. Wow! Alle Szenen
neu und überraschend, die vielen Kleinigkeiten noch nicht entdeckt. Wie
muss das schön sein!“
Zehn
Minuten später saßen wir auf der Couch vor dem Fernseher. Vom ersten
Abendessen bis zum gemeinsamen stummen Fernsehen in weniger als einer
Stunde – es soll Paare geben, die brauchten dazu mehr als drei Jahre.
...