Leseprobe Ein Kaktus allein am Strand - Seelenfutter-Buchprojekte

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Leseprobe aus Ein Kaktus allein am Strand

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Kapitel 7
 
Sie dachte ja, sie könne Radfahren, weil sie es als Kind oft und gerne getan hatte. Sie war zum Klavierunterricht und in die Schule geradelt. Zum Klavierunterricht sehr langsam, da sie die Lehrerin hasste, eine arrogante brünette Prinzessin mit einem unangenehm süßlichen Geruch, aufdringlich und noch Stunden später aus der Kleidung aufsteigend wie Abendnebel. Aber das jetzt war gar kein Radfahren mehr wie sie es kannte, es gab 27 verwirrende Gänge, dazu giftige Scheibenbremsen und Reifen mit tausend Noppen daran, die lautstark summten, als müsse sich jede einzelne Noppe saugnapfartig vom Asphalt lösen, nachdem sie ihn einen raschen Moment lang geküsst hatte. Allen fiel es offensichtlich leicht, mit ihren Rädern ganz seltsame Kunststücke zu machen, sie war schon froh, wenn sie halbwegs die Balance halten konnte. Dazu rutschte ihr der Helm fortwährend ins Blickfeld oder in den Nacken, ein Helm, dessen Innenleben sich auch perfekt zum Haarentfernen eignete, es ziepte und zupfte auf ihrem Kopf zum Wahnsinnigwerden. Zuhause benutzte sie niemals einen Helm, lieber fuhr sie gar nicht Rad, hier war es Vorschrift und sie wagte nicht, dagegen aufzubegehren. René gab Tempo und Richtung vor, verschwand also bald hinter der nächsten Kurve und ward nicht mehr gesehen. Eine kleine Verfolgergruppe blieb wunderlich kraftvoll an ihm dran und verschwand ebenso am Horizont. Es folgte ein Mittelfeld aus drei Optimisten, die zwar nicht mithalten konnten, es aber sportlich nahmen und einander anfeuerten, dabei auch noch lachten, was auf körperliche Reserven hindeutete und umso mehr frustrierte. Sie brauchten wenigstens deutlich länger, um sich dauerhaft außer Sichtweite zu bringen, aber auch für sie kam der Moment. Ganz hinten gab es dann nur noch zwei trübe Gestalten, für die sich jedes Tempolimit erübrigen würde. Eine davon war sie, die schon recht früh an das Erreichen des Gipfels zum Sonnenuntergang nicht mehr glaubte und eigentlich nur noch kämpfte und strampelte, weil sie eine jüngere Begleiterin hatte, neben der sie sich großartig fühlen durfte und die sie für die personifizierte Verzweiflung hielt. Zuerst hatte die ja noch gejammert, auf eine Art Englisch, schwer zu verstehen, wahrscheinlich ein grober Dialekt, doch mit schwindender Kraft war es zum Keuchen geronnen, danach zu einem Pfeifen, mittlerweile heulte sie und fuhr Schlangenlinien, um nicht gänz­lich das Gleichgewicht zu verlieren und umzufallen. Sie hieß Rose, war dramatisch tätowiert und etwas übergewichtig. Dazu wirkte sie hoffnungsfroh unterbelichtet und so derb, als würde sie ihre Freizeit gerne mit Abbrucharbeiten verbringen. Neben ihr schmolz diese Katastrophe eines Ausflugs wenigstens anflugweise für kurze Momente zu etwas boshaft Vergnüglichem, schimmerten Momente der Genugtuung inmitten vollständiger Vernichtung.

 
 
Von Anbeginn an war es nur bergauf gegangen, mal etwas mehr, mal etwas weniger, aber niemals, nicht einen Meter, flach dahin. Die schmale Asphaltstraße schlängelte sich ins Hinterland und ähnelte der Fährte eines herumstreifenden Hundes. Am Wegrand duckten sich kleine Mauern, in deren Nischen sich Echsen tummelten, sicher auch Schlangen, vor denen sie sich fürchtete, obwohl sie keine je zu Gesicht bekam, dazu alles Mögliche an anderem Getier, vieles wohl giftig, Skorpione zum Beispiel, oder schwarzspiegelnde Riesenkäfer, Wunder der Natur, auf die sie sich noch nicht mal trauen würde, draufzutreten. Das alles tief hineingetaucht in das ohrenbetäubende Rasseln der Zikaden in krummen, wie wehklagend ihre Äste gen Himmel reckenden Bäumen, im Grunde aber kümmerlich und nicht zu vergleichen mit jenen Kalibern, die in deutschen Wäldern ihre Kronen ins All schossen.

 
Hinter diesen beiden ungleichen Radfahrerinnen heulte der Motor eines völlig offenen Plastikcabrios mit Citroën Winkeln am Kühlergrill, ein sehr originelles Auto, das bereits große Teile seiner Karosserie abgeworfen zu haben schien, aber wohl auch schon ziemlich alt war. Am Steuer ein Bübchen mit umgedreht aufgesetztem Paris Saint-Germain Cap und einer Gauloises im Mund, die Augen hinter einer bläulich verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Wenn sie es richtig verstanden hatte, war das ein Neffe Renés, Boubou genannt, ein Name wie für ein Gespenst. Er lenkte den Besenwagen, der die Reste an Schwächlingen aufklauben musste, die unterwegs aus den Sätteln kippten, vor allem aber wohl dafür zu sorgen hatte, dass René kein Fahrrad und auch sonst nichts verloren ging, was gegen Gebühr entliehen worden war. Dies heulende Ding zog einen niedrigen, einachsigen Anhänger, der jetzt noch gänzlich leer war, hinter sich her. Ein Anhänger, der fortwährend blechern klapperte und schepperte und schon im Algerienkrieg im Einsatz gewesen sein könnte, Schusslöcher inklusive.

 
Mit einem gebrüllten letzten „Fuck!“ taumelte Rose vom Rad und zerfiel am Wegrand zu einem Klumpen weichen Fleischs auf den Boden. Ein wunderbares Bild, wenigstens die hatte sie hinter sich gelassen, sie durfte sich jetzt also von ihr entfernen und auch mal das unbeschreibliche Gefühl auskosten, hinter der nächsten Kurve wie eine Siegerin zu entschweben. Denn genau das war es für sie, ein Sieg, sie war besser als andere. Dazu wurde die Straße wieder flacher und die Pedale wirkten nicht mehr so festgerostet wie gerade noch. Bald konnte sie es sogar rollen lassen, noch einen Zacken zugeben, die Beine lässig kreisend in Bewegung, den kühlenden Fahrtwind im Gesicht, diese einsame, wie verwunschen wirkende Landschaft für einen sehr speziellen Moment lang in sich aufnehmen, sie genießen. Sie war jetzt in einem Hochtal, schmal eingeschnitten wie ein herausgeschlagener Keil, die Berghänge rückten näher und näher, reckten sich felsiger, zerklüfteter, monumentaler über sie hinweg. Weite Kurven, Sand und Staub und unvermittelt Ende. Die Straße hörte einfach auf, als wäre sie von Anfang an nichts als ein Irrtum gewesen. Bäume vor ihr, neben ihr, im Kreis. Hinter den Bäumen dunkler Fels, und nirgends nicht mal eine Ahnung von einem Pfad. Sie hielt an, ratlos und überrascht umherblickend, hörte das Plätschern eines Bachs, die hellen Schreie eines Vogels weit über ihr, ein Raubvogel vielleicht, das Rascheln der Blätter im Wind, aufbrausend und wieder abschwellend, das Jammern eines überforderten Motors. Für kurze Momente konnte sie den Wagen erkennen, diesen halbfertig montiert wirkenden Citroën, der gerade noch hinter ihr gewesen war und sich nun eine Passstraße nach oben quälte, deren Abzweig sie verpasst haben musste.
 
 
 
8
Der Abzweig war im Grunde nicht zu übersehen gewesen, sogar ein Schild wies auf ihn hin, ein anderes bedeutete unmissverständlich Sackgasse und pfeilte in die Richtung, die sie genommen und aus der sie sich zurück gekämpft hatte wie ein Soldat nach verlorenem Krieg in die Heimat, zerschunden und gedemütigt, bereits wieder verzweifelt nach Luft ringend. Im kleinsten Gang, den sie zwischen all den garstigen Zahnrädern finden konnte, Zentimeter für Zentimeter, arbeitete sie sich den Weg den anderen hinterher empor. Nur noch dieser eine Meter, schau nur, bis zu diesem Brocken, diesen Wurzeln, diesem drolligen Grashäubchen da vorne, ach, nur bis zu dieser Kurve, denn willst du nicht unbedingt wissen, was sich dahinter für ein neues Bild auftun wird? Über die eine Kuppe noch, eine lächerliche Kuppe nur, kaum der Rede wert, du wirst darüber lachen. Sie teilte die Straße in unzählige kleine Episoden und Kapitel auf, die alle das Lied der Entsagung, des Überlebens und der unfassbaren Wut sangen. Wut auf keinen anderen als auf sich selbst, und nicht allein die sinnlose Anstrengung ließ sie innerlich kochen, es war vor allem die Tatsache, auch noch sehr viel Geld dafür bezahlt zu haben.

 
Die ganze Gruppe johlte und feixte, als sie in Sichtweite kam, selbst Rose, die mit Bier in der einen, Zigarette in der anderen Hand auf ihrem drallen Hintern hockte, auf einem vom Wind und der Ewigkeit geformten Felsbrocken, fuckin‘ Queen of the Mountains.
 
„Déjà là?“, hörte sie und dazu kehliges Lachen, dröhnend und peinigend, eine Schaufel Salz nach der anderen für ihre wundklaffende Seele.
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Created by Andreas Kurz
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